Die
lautsprachliche oder orale Methode
(KK, 05/98)
In der pädagogischen
Praxis für Gehörlose (vor allem im deutschsprachigen Raum) ist
der orale Ansatz weit verbreitet. Die Vertreter/innen dieser
Methode (zum Beispiel van Uden) sind der Ansicht, daß ein
gehörloses Kind seine Lautsprachkompetenz (die
Fähigkeit, zu sprechen und gesprochene Sprache zu verstehen) im
wesentlichen durch lautsprachliche Kommunikation
erlernen soll.
Gefördert wird vor
allem das Hören, das Artikulieren
(Bilden von einzelnen Lauten und Wörtern) sowie das Ablesen
der gesprochenen Sprache von den Lippen. Dabei wird nach
Möglichkeit bewußt auf die
Verwendung von Gebärden oder eines anderen visuellen
Zeichensystems verzichtet. Nur in Ausnahmefällen ist
der Gebrauch von Gebärden erlaubt, etwa zur Erleichterung einer
besonders schwierigen Kommunikationssituation oder bei
mehrfachbehinderten Kindern. Gebärden werden im Rahmen der
oralen Methode jedenfalls nicht systematisch eingesetzt. Die
Vertreter/innen dieser Richtung sind auch der Ansicht, daß die
Verwendung von Gebärden in der Zeit der Sprachanbahnung negative
Auswirkungen auf die Lautsprachentwicklung habe.
Das gehörlose Kind muß
sich durch konsequentes Üben eine große lautsprachliche
Fähigkeit (Kompetenz) erarbeiten. Durch möglichst optimalen
Erwerb der Laut- und Schriftsprache soll es aktiv am Leben der
Hörenden teilnehmen können; das wiederum soll die soziale
Eingliederung (Integration) in die Welt der Hörenden
erleichtern. Dennoch erreichen nur wenige der rein lautsprachlich
geförderten gehörlosen Kinder das Ziel, spontan Gespräche in
Lautsprache mit der hörenden Umwelt führen zu können.
Die
Zielsetzungen des oralen Ansatzes, eine möglichst hohe Kompetenz
in der Laut- und Schriftsprache zu erlangen, sind durchaus im
Sinne des gehörlosen Kindes. Ein gutes Verständnis der
Schriftsprache ist auch für gehörlose Menschen
in unserer Gesellschaft unerläßlich, damit ein möglichst
breiter Zugang zu Information und Bildung
gegeben ist. Dennoch scheint uns eine vollständige Integration
rein lautsprachlich geförderter Kinder in die Welt der Hörenden
nicht generell möglich. Auch bei bestmöglicher lautsprachlicher
Förderung gehörloser Kinder und Jugendlicher bleiben - im
Vergleich zu Hörenden - Defizite in der aktiven Verwendung der
Laut- und Schriftsprache bestehen.
In zahlreichen
Untersuchungen wurde außerdem festgestellt, daß das Schriftsprachverständnis
rein lautsprachlich erzogener gehörloser Personen nach wie vor sehr
beschränkt ist. Auch ein altersgemäß normaler Spracherwerb
konnte bei Gehörlosen, die oral erzogen wurden, nicht generell
nachgewiesen werden.
Eine rein orale
Erziehung ist für ein Kind dann gerechtfertigt, wenn es
schwerhörend ist, das heißt, wenn es mit Hilfe von Hörgeräten
die Lautsprache erlernen kann. Aber auch hier muß im
Einzelfall entschieden werden, ob eine lautsprachliche, eine
gebärdensprachliche oder eine kombinierte Frühförderung
angebracht ist.
Ist das Kind
gehörlos, vertreten wir die Ansicht, daß dem Kind auf
jeden Fall eine andere Möglichkeit geboten werden muß, Sprache
zu erlernen. In Übereinstimmung mit dem vorhandenen Sinneskanal
(Auge/Sehen) übernimmt die Gebärdensprache die
Aufgaben der Lautsprache. Neben der Gebärdensprache soll das
gehörlose Kind auch die Lautsprache, vor allem in ihrer
schriftlichen Form, erlernen. Man spricht dann von der kombinierten
oder bilingualen Methode. Das Kind wächst zweisprachig auf, wobei
die Gebärdensprache die Erstsprache und die Lautsprache die
Zweitsprache ist.
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