Um die unterschiedliche
Ausgangssituation gehörloser Kinder im Hinblick auf Bildung und
Schule zu illustrieren, wollen wir zwei Beispiele aus
dem sehr empfehlenswerten Buch "Gehörlose. Eine Kultur
bringt sich zur Sprache" von Carol Padden und Tom Humphries
(Hamburg 1991) herausgreifen. Es ist das eines der wenigen
Bücher, das aus Sicht der Gehörlosenkultur geschrieben wurde;
Carol Padden und Tom Humphries sind selbst gehörlos.
- Howard,
gehörlos - sämtliche Familienmitglieder der engen und
weiteren Verwandtschaft sind ebenfalls gehörlos. Howard
berichtet, daß ihn seine Eltern, als er sechs Jahre alt
geworden war, in eine Gehörlosenschule brachten, und er
ergänzte: "Können Sie sich das vorstellen? Ich
wußte gar nicht, daß ich gehörlos war, bis ich in die
Schule kam."
Damit meinte Howard aber nicht, daß er zu jenem
Zeitpunkt erst entdeckte, nicht hören zu können - er
entdeckte, daß die Gebärde GEHÖRLOS, die er im
familiären Zusammenhang verwendete, plötzlich eine
andere Bedeutung bekam.
Zu Hause bezog sich GEHÖRLOS auf "wir" im
Sinne von "eine/r von uns"; damit waren seine
Familienangehörigen und Freunde gemeint. Nunmehr
erkannte er, daß viele Menschen mit der Gebärde
GEHÖRLOS "sie" meinen im Sinne von "nicht
unseresgleichen".
Dazu kommt, daß ein gehörloses Kind in der Situation
von Howard erst in der Schule erfährt, daß Gebärden
nicht nur "nicht selbstverständlich" sind; es
macht vielleicht die neue Erfahrung, daß Gebärden
unerwünscht oder verboten sind und daß plötzlich das
Hören- und Sprechenlernen ins Zentrum rückt.
- Tony, Kind
hörender Eltern und mit sechs Jahren infolge einer
medikamentösen Behandlung ertaubt. Für Tony prägte
sich nicht die Erkenntnis, "Ich kann nicht
hören", in seine Erinnerung ein. Entscheidend für
ihn war der Zeitpunkt, als er spürte: "Nur ich
bin so!".
Durch seine "Krankheit" hatte sich für Tony
etwas grundlegend verändert: er wurde zum Außenseiter
in seiner eigenen Familie. Er konnte sprechen wie alle
anderen, er konnte nur nicht hören. Daher sah er sich
auch völlig anders als jene gehörlose Cousine, die die
Gebärdensprache benutzte. Wenn Tony nun von sich sagt,
er sei "gehörlos", hat das für ihn eine ganz
andere Bedeutung wie für Howard.
Beispiele dieser Art ließen sich
noch viele anfügen - es würde ein buntes
Mosaik entstehen, das immer einen anderen
Blickwinkel auf das Thema "Gehörlosigkeit" eröffnet.
Im Mittelpunkt aber stehen immer einzelne Personen -
hörgeschädigte Kinder und Jugendliche - auf ihrem Weg ins
Erwachsenenleben.
Es kann daher nicht
generell darum gehen, gehörlose Kinder für eine "Zukunft
in der hörenden Welt" vorzubereiten. Vielmehr sollte alles
versucht werden, gehörlosen Kindern den Zugang zu beiden Welten
- zur Welt der Hörenden und zur Welt der Gehörlosen - zu
ermöglichen.
Welcher Weg dann tatsächlich im
Erwachsenenalter beschritten wird, liegt in der Verantwortung der
jeweils gehörlosen Person.
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