Gehörlosengemeinschaft
Gebärdensprachgemeinschaft
In der Literatur liest man meistens den
Begriff Gehörlosengemeinschaft, auch dann (oder besser vor allem), wenn
man jene Gehörlosen meint, deren erste Sprache die Gebärdensprache ist und die sich als
Vertreter/innen der Gehörlosenkultur sehen.
Es gibt aber auch zahlreiche Gehörlose, die sich eher der hörenden Kultur verbunden
fühlen. Die meisten von ihnen sind rein lautsprachlich (oral) und ohne Gebärde erzogen
worden. Daher beherrschen sie die Gebärdensprache nicht oder benutzen sie nur im
Ausnahmefall.
In vielen Texten dieses Servers finden Sie
anstelle von Gehörlosengemeinschaft die Bezeichnung Gebärdensprachgemeinschaft.
Dieser Sprachverwendung liegen folgende Überlegungen zugrunde:
Menschen - wir denken bei diesem Beispiel an Hörende -
die eine gemeinsame (Laut-)Sprache sprechen, bilden eine Sprachgemeinschaft. Wenn eine
relativ kleine Gruppe von Menschen eine bestimmte Sprache spricht, dann bezeichnet man
diese Gruppe als sprachliche Minderheit, ihre Sprache als Minderheitensprache.
Minderheitensprachen werden in bestimmten Programmen der EU gefördert.
Meist leben sprachliche Minderheiten gemeinsam
in einer bestimmten Region eines Landes. Ein Beispiel für eine solche Gruppe sind die
Kärntner Slowenen und Sloweninnen; sie sind vor allem in Unterkärnten zu Hause. Einige
sprachliche Minderheiten leben auch verstreut in einem relativ großen
Gebiet, zum Beispiel die Sinti und Roma.
In diesem Sinne können die Gehörlosen ebenfalls
als sprachliche Minderheit gesehen werden. Ihre Sprache wird allerdings nicht mit
Lauten gebildet, sondern mit Gebärden: die Sprache der gehörlosen Minderheit ist also
eine Gebärden-Sprache. Aus Sicht der EU gelten Gebärdensprachen
nicht als Minderheitensprachen. Warum das so ist, ist für uns nicht einleuchtend!
Denn die meisten gehörlosen Menschen leben nicht
nur verstreut, sondern meist sogar vereinzelt in hörenden Familien; die
gesprochene Sprache ihrer Umgebung können Gehörlose nicht oder nur teilweise wahrnehmen.
Sie sehen vor allem, wie die Menschen ihre Lippen bewegen. Und sie lernen schon bald, daß
es für sie wichtig ist, zu erfahren, was diese Lippenbewegungen bedeuten. Also werden
gehörlose Kinder bereits früh dazu angeleitet, vom Bild der Lippen auf die gesprochenen
Laute zu schließen und so das Gesagte zu entschlüsseln.
Daß das nicht einfach ist, können Sie sich bestimmt
vorstellen. Daß es noch viel schwerer ist für jemanden, der diese Laute niemals hört,
und dennoch bereits als Kind mühsam lernen muß, wie man die einzelnen Laute bildet,
können Sie sich vielleicht nicht mehr vorstellen ... oder doch? Dann sind Sie
wahrscheinlich selbst gehörlos!
Alles das macht die Situation gehörloser Menschen in
einer hörenden und sprechenden Umwelt nicht einfach, und oft müssen sie auf die Hilfe
eines Gebärdensprachdolmetschers oder einer
Gebärdensprachdolmetscherin zurückgreifen.
Hörende wiederum haben mit der Gebärdensprache so
ihre Schwierigkeiten! Nur wenige Hörende verstehen die Gebärdensprache, die meisten von
ihnen haben gehörlose Verwandte und tun sich beim Lernen ein wenig leichter. Wenn Sie
als Hörende/r versuchen, die Gebärdensprache zu erlernen, dann werden Sie viele neue
Erfahrungen machen:
Auf einmal haben Sie ganz ungewohnte Probleme: Sie
verwechseln rechts mit links und oben mit unten, Sie können die Handformen nicht richtig
nachbilden Sie stellen sich ungeschickt an und sind furchtbar langsam beim
Gebärden. Das Ablesen der Gebärden ist noch schwieriger für Sie ... Spätestens jetzt
werden Sie die Geschwindigkeit, die Geschicklichkeit und die visuelle Aufmerksamkeit Ihrer
gehörlosen Gesprächspartner/innen bewundern. Und auch wenn Sie täglich üben, werden
Sie diese Fertigkeit im Gebärden niemals ganz erreichen können!
Dennoch kann das Erlernen der Gebärdensprache für
Sie ein besonderes Erlebnis sein Sie nehmen plötzlich Ihren
Körper und Ihre Ausdrucksmöglichkeiten ganz anders wahr. Versuchen Sie es doch einmal!
Vielleicht gibt es in Ihrer Nähe einen Gebärdensprachkurs - die Gehörlosenvereine oder
Beratungsstellen können Ihnen sicher Auskunft geben.
Für gehörlose Kinder hörender Eltern ist es häufig
schwierig, andere gehörlose Menschen (vor allem gehörlose Erwachsene) kennenzulernen.
Hörende Eltern suchen oft erst spät den Kontakt zu Gehörlosenvereinen und damit zu
jener Sprache, in der sich ihre Kinder sich am besten ausdrücken könnten. Paddy Ladd,
damals gehörloser Professor an der Gallaudet-University
in Washington, hat sich 1989 in einem Vortrag dazu so geäußert:
"Wir alle kennen das Gefühl, aus der Dunkelheit
heraus in einen Raum voll Wärme und Licht zu treten. Dieses Gefühl möchte ich
vergleichen mit der Erfahrung, die jeder Gehörlose macht, wenn er die Gebärdensprache
und die Gemeinschaft der Gehörlosen entdeckt. Wenn wir und andere erst einmal die
Reichweite unserer Sprache erkannt haben, sind wir einen entscheidenden Schritt weiter auf
dem Weg, unsere Kultur zu entdecken."
Der Vortrag ist in der Zeitschrift "Das
Zeichen" Nr. 24(1993), Seite 190-197, in deutscher Sprache nachzulesen.
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