Berufsbild
"Gebärdensprachdolmetscher/in"
In der Österreichischen
Gehörlosenzeitung (ÖGLZ) 2/96, S. 18-21, problematisiert Nadja
Grbic die Situation der Gebärdensprachdolmetscher/innen in
Österreich; sie skizziert - davon ausgehend und aus
europäischer Perspektive - ein neues Berufsbild vom
Gebärdensprachdolmetschen. Wir geben hier einen kurzen Auszug
dieses Artikels wieder.
Die Autorin ist Leiterin
der Abteilung für Gebärdensprache und Gehörlosenkultur des
Instituts für Übersetzer- und Dolmetscherausbildung an der
Universität Graz, in der man seit Jahren um eine qualifizierte
Ausbildung für Gebärdensprachdolmetscher/innen bemüht ist.
Gebärdensprachdolmetschen
- Ein neues Berufsbild?
Nadja
Grbic, (h)
(...)
3.
Gebärdensprachdolmetschen in Österreich
In Österreich hat das
Gebärdensprachdolmetschen, anders als in vielen anderen
europäischen Ländern, noch weitgehend
"Notdienstcharakter". Wird die Aussage einer
gehörlosen Person dringend benötigt (Polizei, Gericht u.ä.),
steht außer Frage, daß ein Gebärdensprachdolmetscher
beigestellt wird. Ganz anders sieht die Situation aus, wenn ein
Gehörloser auf Information von außerhalb der
Gehörlosengemeinschaft angewiesen ist (Besuch eines Vortrages,
Museumsführung, Computerkurs, Arztbesuch u.ä.). In diesem Fall
ist der Einsatz eines Dolmetschers persönlicher Luxus und nicht
das Recht des einzelnen Bürgers auf Teilnahme an allen Bereichen
des Lebens in einem Gesellschaftssystem. Das Funktionieren der
Kommunikation hängt im zweiten Fall vor allem von der
Gewogenheit eines Beamten ab, der die Finanzierung des
Dolmetschers bewilligt oder aber nicht, oder von den finanziellen
Möglichkeiten des betroffenen Gehörlosen.
Lange Zeit rekrutierten
sich Gebärdensprachdolmetscher vor allem aus zwei Lagern. Zum
einen dolmetschten hörende Kinder gehörloser Eltern, sogenannte
"natürliche Dolmetscher", die zweisprachig
aufgewachsen waren, und als Erwachsene, meist nebenberuflich,
auch als Dolmetscher arbeiteten. Zum anderen waren es hörende
Personen aus dem Sozial- und Bildungsbereich (Sozialarbeiter,
Gehörlosenlehrer, Erzieher, Pfarrer u.ä.), die sich - mit meist
eher geringen Gebärdensprachkenntnissen, aber einem
ausgebildeten Helfersyndrom - für Gehörlose auch als
Dolmetscher einsetzten.
In beiden Fällen ist
Gehörlosen oft nicht wirklich geholfen. Unprofessionelle
Dolmetscher mögen Gehörlose zwar hin und wieder vor einer
unangenehmen Situation bewahren, andererseits sind es jedoch
vielfach Dolmetscher aus eben denselben Gruppen, die nicht selten
dafür verantwortlich waren, daß Gehörlose übervorteilt
wurden, als Unschuldige vor Gericht für schuldig erklärt wurden
oder eine Prüfung nicht bestanden und den gewählten Berufsweg
nicht einschlagen konnten. Heute wird, neben der Arbeit an
effektiven Dolmetschcurricula, vermehrt Bewußtseinsbildung
betrieben, um eine möglichst strikte Trennung zwischen
professionellem Dolmetschen und professioneller Sozialarbeit zu
gewährleisten.
Unprofessionelles
Dolmetschen aus einer Gebärdensprache in eine gesprochene
Sprache hat ebenso nicht zu unterschätzende Langzeitfolgen für
die Gehörlosengemeinschaft. In Ermangelung einer ausreichenden
Kenntnis der unterschiedlichen Strukturen der beiden Sprachen und
angemessener Dolmetschtechniken und -strategien, ist der von
unprofessionellen Dolmetschern produzierte Zieltext oft kaum als
Deutsch erkennbar. Was man hört, ist vielmehr eine wörtliche
Übersetzung aus der Gebärdensprache, die an
"foreigner-talk" oder "Gastarbeiterdeutsch"
erinnert. Derart schlechte Dolmetscherleistungen haben zur Folge,
daß die Gehörlosengemeinschaft noch weiter ins
gesellschaftliche Out gedrängt wird und jahrhundertealte
Vorurteile gegenüber hörgeschädigten Menschen kontinuierlich
bekräftigt werden.
Die Situation in
Österreich war und ist in vielen Fällen nicht anders. Doch
Ausnahmen bestätigen die Regel. Eine kleine Gruppe von etwa zehn
sehr engagierten Gebärdensprachdolmetschern, die keine
professionelle Ausbildung genießen konnten, ist seit etwa fünf
Jahren bemüht, sich in Seminaren und Workshops weiterzubilden,
um den steigenden Ansprüchen genüge zu tun. Denn im Zuge der
wachsenden Emanzipation der Gehörlosengemeinschaft werden auch
schlechte Dolmetschleistungen mehr und mehr geahndet, und
Gehörlose beginnen verstärkt von ihrem Recht Gebrauch zu
machen, Dolmetscher abzulehnen. In anderen Ländern Europas geht
es bereits so weit, daß dutzendfache Klagen aufgrund nicht
erbrachter Leistungen oder Schädigung der Klienten laufen.
4. Berufsbild
des professionellen Gebärdensprachdolmetschers
Die Bezeichnung
"Gebärdensprachdolmetscher" (zum Teil auch noch
"Taubstummendolmetscher" oder
"Gehörlosendolmetscher") ist als Berufsdefinition
wenig exakt. Das Dolmetschen für gehörlose Klienten umfaßt
Tätigkeiten in vielen verschiedenen Bereichen. Professionelle
Dolmetscher müssen heute neben der aktiven und passiven
Kompetenz beider Sprachen und der Dolmetschkompetenz ebenso
sozioloinguistisches, soziokulturelles, psychosoziales und
juristisches Wissen, aber auch, je nach Einsatzbereich,
Fachwissen in unterschiedlichen Disziplinen mitbringen.
Das Anforderungsprofil
an Gebärdensprachdolmetscher hat sich in den letzten Jahren
deutlich geändert. Lange Zeit verstand man unter
Gebärdensprachdolmetschen in erster Linie das Dolmetschen in
Ämtern, bei Behörden oder Ärzten (community interpreting).
Heute ist dieser Bereich nur mehr ein Teil der möglichen
Tätigkeiten. Im folgenden möchte ich mögliche Einsatzbereiche
von Gebärdensprachdolmetschern auflisten.
4.1. Community
Interpreting
Gehörlose sind aufgrund
ihrer Hörschädigung von vielen Informationen, die jeder andere
Staatsbürger automatisch erhält, weitgehend ausgeschlossen.
Ziel und Zweck des Einsatzes von Dolmetschern (community
interpreters) ist es, Gehörlosen in jenen Bereichen des
täglichen Lebens eine reibungslose Kommunikation zu
ermöglichen, die ihnen ohne Dolmetscher vorenthalten wären.
Dazu zählen u.a. folgende Bereiche:
- Ämter und
Behörden
- Wirtschaft
(Kredite, Kauf, Leasing u.ä.)
- Medizin
(Arztbesuche, Notaufnahme im Krankenhaus,
Schwangerschaftsvorbereitungskurse o.ä.)
- Psychologie und
Psychiatrie (Psychotherapie, Gruppentherapie,
Familientherapie u.ä.)
- Sozialbereich
(Berufsorientierungskurse, Gespräche mit Sozialarbeitern
u.ä.)
- Arbeitswelt
(Betriebsversammlungen, Gewerkschaftsversammlungen,
Dienstbesprechungen, Bewerbungsgespräche u.ä.)
- Schule
(Elternabende, Elternvereinssitzungen, Sprechtage o.ä.)
- Politik (politische
Versammlungen, politische Reden u.ä.)
- Religion (Messe,
Taufe, Hochzeit o.ä.)
- Kunst und Kultur
(Museumsführungen, Theater, Kabarett, Oper)
- Freizeit (Besuch
von Vorträgen, Stadtführungen, Reiseleitung u.v.m.)
4.2. Dolmetschen
in Bildungseinrichtungen
Das Dolmetschen in
Bildungseinrichtungen zählt, aufgrund des wachsenden
Bildungsstandes der Gehörlosengemeinschaft, zu den rasant
wachsenden Einsatzbereichen. Gehörlose geben sich zu Recht nicht
mehr mit den für sie traditionell vorgegebenen Berufen, wie etwa
Tischler, Schneider u.ä. zufrieden. Sie verlangen gleiches Recht
auf Zugang zu Bildungseinrichtungen und das Recht auf freie Wahl
des Berufes. Mögliche Einsatzbereiche sind: Höhere Schulen,
Berufsschulen, Fachschulen, Institutionen mit
Weiterbildungsangeboten, Computerkurse etc.), Akademien und
Universitäten. Aufgrund der wachsenden Zahl gehörloser
Studierender, etwa an der Universität Graz, setzt sich die
(blinde) Behindertenbeauftragte derzeit sehr für die Schaffung
einer Planstelle für einen Gebärdensprachdolmetscher für die
Karl-Franzens-Universität Graz ein.
4.3.
Gerichtsdolmetschen
Der Bereich des
Gerichtsdolmetschens unterscheidet sich nicht wesentlich vom
Gerichtsdolmetschen für hörende Personen. Dazu zählen neben
den eigentlichen Gerichtsverfahren Polizeieinvernahmen,
Rechtsanwaltskonkultationen, Besprechungen mit Bewährungshelfern
u.ä. Problematisch in diesem Tätigkeitesbereich ist die häufig
mangelnde ethische , sprachliche und fachliche Professionalität
vieler derzeit tätiger Gebärdensprachdolmetscher.
4.4.
Konferenzdolmetschen
Immer mehr gehörlose
Privatpersonen oder Delegationen von Gehörlosenverbänden nehmen
an internationalen Kongressen teil, und die Zahl der
Fachkongresse zu Themenkreisen wie Gebärdensprachforschung,
Gehörlosenkultur, Gehörlosensoziologie, Gehörlosenpädagogik
u.ä. nimmt laufend zu. Da die onferenzsprache in den meisten
Fällen Englisch ist, und die Dolmetscher daher aus dem
Englischen in ihre nationale Gebärdensprache dolmetschen
müssen, ist die Voraussetzung für den Einsatz in diesem Bereich
eine ausgezeichnete Englischkompetenz. Des weiteren müssen diese
Dolmetscher Kenntnisse und Erfahrungen im Teamdolmetschen haben.
4.5.
Mediendolmetschen
In den USA und in vielen
Ländern Europas, selbst in jenen, die in den Augen der
Mitteleuropa-Zentristen zu "Drittweltländern" gezählt
werden, ist das Gebärdensprachdolmetschen von
Nachrichtensendungen im Fernsehen an der Tagesordnung. In
Österreich besteht von seiten des ORF trotz laufender Anfragen
des Gehörlosenbundes bisher kein Interesse, obwohl die
technischen Voraussetzungen gegeben wären. Während des
Weltkongresses im Juli vorigen Jahres [1995, Anm.] wurde lediglich ein symbolischer Akt
gesetzt, als an einem Nachmittag Gebärdensprachdolmetscher
eingeblendet wurden. Es ist jedoch anzunehmen, daß sich auch das
Österreichische Fernsehen nicht mehr lange davor verschließen
können wird.
(...)
Mehr dazu und alles
über die derzeitige Ausbildung können Sie auf den Intenetseiten
der Abteilung für
Gebärdensprache und Gehörlosenkultur an der Universität Graz
nachlesen.
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