ad) Grammatik der Gebärdensprachen
(AS, 06/98)
1.
Bausteine:
In
Gebärdensprachen gibt es zwei Arten von Bausteinen:
Manuelle
Bausteine, das sind Bausteine, die mit den Händen
gebildet werden.
Nichtmanuelle Bausteine, das sind Bausteine, die mit
anderen Körperteilen (nicht mit den Händen) gebildet
werden.
Manuelle Bausteine sind:
die Handform
die Handstellung (Handorientierung)
die Ausführungsstelle
die Bewegung der Gebärde
Nichtmanuelle
Bausteine sind:
die Mimik
das Mundbild
die Kopf- und Körperhaltung
die Blickrichtung
Lautsprachliche Bausteine werden einer nach dem anderen
(sequentiell) gebildet, zum Beispiel
W + I + N + D. Simultan (gleichzeitig) zu den
Lauten entstehen die Intonation (Tonhöhe und Betonung) und
sogenannte parasprachliche Merkmale (Mimik und Gesten).
Parasprachliche Merkmale tragen machmal wichtige Informationen,
werden aber nicht unmittelbar zum Sprachsystem gezählt.
Mit 'Mimik' bezeichnen wir Veränderungen des
Gesichtsausdrucks, mit 'Gesten' Bewegungen der
Hände, Arme, Schultern und des Kopfes. Vergleiche folgende
Zeichnung:
Lautsprachliches Zeichen:
Intonation, Mimik und Gestik
|
W
|
I
|
N
|
D
|
B
a u s t e i n e
Auch
in Gebärdensprachen treten Bausteine nacheinander auf, viele
kommen aber (im Gegensatz zu Lautsprachen) gleichzeitig (=
simultan) vor. In der Gebärde SPUCKEN
bilden Handform, Handstellung, Ausführungsstelle sowie Bewegung
und Mundgestik (nichtmanueller Baustein) eine Einheit: Die
Gebärde beginnt an einer bestimmten Ausführungsstelle und endet
an einer anderen; dazwischen liegt die Bewegunge; die Handform
bleibt während der gesamten Gebärde gleich.
Gebärdensprachliches Zeichen:
nichtmanueller
Baustein: |
Mundgestik |
manuelle
Bausteine: |
Handform |
|
Handstellung |
Bewegung |
Handstellung |
|
Ausführungsstelle |
|
Ausführungsstelle |
Gesicht
und Körper transportieren sowohl in Gebärdensprachen als auch
in Lautsprachen verschiedene Inhalte. In Lautsprachen haben
Veränderungen des Gesichtsausdrucks oder Körperbewegungen keine
unmittelbare sprachliche (nur parasprachliche) Funktion. In
Gebärdensprachen dagegen haben mimische Elemente oft sprachliche
Funktionen. Deshalb ist es in Gebärdensprachen auch schwierig,
zwischen diesen beiden Funktionen zu unterscheiden:
Nichtmanuelle
Bausteine mit sprachlichen (grammatikalischen) Funktionen
besitzen fixe, wiederkehrende Muster, zum Beispiel
gehobene Augenbrauen, geneigter Kopf, gerunzelte Stirn
bei bestimmten Fragen (Entscheidungsfragen)
Es
gibt in Gebärdensprachen auch mimische Elemente, die -
vergleichbar mit bestimmten Tonfällen in Lautsprachen -
Gefühlslagen wie Freude, Angst, Zorn oder Traurigkeit
transportieren. Solche Elemente bezeichnen wir als
parasprachlich.
Nichtmanuelle
Bausteine können verschiedene grammatische Funktionen
übernehmen:
- Sie
übernehmen die Aufgaben von Eigenschaftswörtern (Adjektiven)
und Umstandwörtern (Adverbien).
- Sie kennzeichnen die unterschiedlichen Satztypen
(Verneinung, Bejahung, Frage, Relativ- und Konditionalsatz)
- Sie unterscheiden direkte und indirekte Rede
Handform:
Viele
Gebärden unterscheiden sich in der verwendeten Handform.
Vergleiche zum Beispiel die beiden österreichischen
Gebärden FRAGEN und SAGEN. Da sie sich nur in der Handform
unterschieden, werden sie als 'minimales Paar' bezeichnet.
Ein Beispiel für ein minimales Paar in der deutschen
Lautsprache ist Haus/Maus. Diese beiden Wörter
unterschieden sich nur im ersten Laut.
Einzelne
Bausteine können also Wörter oder Gebärden unterscheiden.
In gesprochenen Sprachen nennt man solche Bausteine 'Phoneme',
in Gebärdensprachen hat man sich noch auf keine passende
Bezeichnung geeinigt.
Handstellung:
Mit der
Handstellung oder Handorientierung bezeichnet man die Stellung
der Handfläche und der ausgestreckten Finger.
Einige Gebärden unterscheiden sich nur in der Handstellung,
zum Beispiel die beiden österreichischen Gebärden SCHIFF
und KIRCHE.
Ausführungsstelle:
Die
Ausführungsstelle beschreibt den Ort, an dem die
Gebärde gebildet wird. Gebärden werden
normalerweise im Gebärdenraum geformt. Innerhalb dieses
Raums können Gebärden vor dem Körper ausgeführt werden.
Sie können aber auch am Körper der gebärdenden Person
beginnen oder enden. Beispiele für Ausführungsstellen am
Körper sind: Stirn, Schläfe, Nase, Wange, Ohr, Mund, Kinn,
Hals, Schulter, Brust, Oberarm, Unterarm, Bauch und
Oberschenkel.
Wie die
Handform und die Handstellung kann auch die
Ausführungsstelle Gebärden voneinander unterscheiden.
Vergleiche zum Beispiel die beiden österreichischen
Gebärden MUTTER und MITTAG.
Bewegung der Gebärde:
Die
Bewegung in Gebärden muß besonders genau beschrieben
werden. Es gibt unterschiedliche Bewegungsarten wie
geradlinige, bogenförmige, kreisförmige und spiralförmige
Bewegungen sowie Schlangen- und Zickzacklinien. Wir trennen
diese Bewegungsarten von komplexen Bewegungen.
Beispiele
für komplexe Bewegungen sind ZUSAMMENKNÜLLEN (Papier) und
BINDEN (Schuhe). Solch ikonische (bildhaften) Bewegungen
können nicht mit den einfachen Bewegungsmustern beschrieben
werden. Die österreichischen Gebärden GURKE und BRAUN
unterscheiden sich nur in der Art der Bewegung. Weitere
Bewegungsarten sind Einzelgelenkbewegungen (nur ein Gelenk
wird bewegt, zum Beispiel Schulterzucken) und sogenannte
lokale Bewegungen (zum Beispiel Greifbewegungen der Finger).
Bewegungen
besitzen folgende zusätzliche Merkmale:
-
Bewegungsrichtung
- Bewegungsebene
- einmalige oder wiederholte Bewegung
- symmetrische oder nichtsymmetrische Bewegung
- Größe
- Geschwindigkeit (Tempo)
- Anspannung (Intensität)
Mimik:
Die
Mimik bezeichnet verschiedene Formen des
Gesichtsausdrucks wie Strinrunzeln, Hochziehen der
Augenbrauen, Aufreißen der Augen, Naserümpfen und Aufblasen
der Wangen. Mundformen werden unter dem Begriff Mundgestik
zusammengefaßt. Mimische Merkmale und Mundgestik
sind Bausteine von einzelnen Gebärden (zum Beispiel WIND und
MÜHSAM). Sie übernehmen auch grammatische
Funktionen (Satztypen, Adjektive und Adverbien).
Mundbild:
Als
Mundbild bezeichnet man das (oft stimmlose) Aussprechen von
lautsprachlichen Wörtern. Die Mundbilder müssen nicht immer
mit diesen Wörtern übereinstimmen. Meist werden sie
gekürzt oder vereinfacht, besonders wenn es um Laute geht,
welche mit den Augen nur schwer wahrnehmbar sind.
Zum
Beispiel das -ch in 'Buch' ist auf den Lippen nicht
sichtbar, weshalb die Gebärde BUCH von dem Mundbild /BU/
begleitet wird. Immer die einfachsten Formen der
lautsprachlichen Wörter werden als Mundbilder eingesetzt.
Zum Beispiel werden Gegenstands- und Personenwörter in der
Einzahl verwendet (/MANN/ und nicht /MÄNNER),
Tätigkeitswörter werden in ihrer Stamm- oder Nennform
benutzt (/ESS-/ oder /ESSEN/ und nicht /ich ESSE/).
Bei
Gesprächen zwischen Gehörlosen und Hörenden treten
Mundbilder recht häufig auf. Unterhalten sich Gehörlose
untereinander, sind Mundbilder seltener.
Das
Mundbild kann verschiedene Funktionen erfüllen:
Oft
liefert das Mundbild keine zusätzliche Information
zur manuellen Gebärde.
Das
Mundbild kann (manuell) gleiche Gebärden
unterscheiden. In der Österreichischen
Gebärdensprache haben beispielsweise die Gebärden
SCHWESTER und BRUDER dieselbe manuelle Form und
können nur durch das begleitende Mundbild /BRUD/
oder /SCHWEST/ voneinander unterschieden werden.
Das
Mundbild kann die Bedeutung einer Gebärde näher
bestimmen. Mit dem Mundbild /BIBEL/ erhält die
Gebärde BUCH die genauere Bedeutung 'Bibel'.
Das
Mundbild kann ein bestimmtes Merkmal des
Gebärdenreferenten hervorheben.
Manchmal
stellt das Mundbild ein eigenes Zeichen dar, das
gleichzeitig mit einer manuellen Gebärde verwendet
wird. In einem Beispiel aus der Norwegischen
Gebärdensprache wird die Gebärde für 'in der Mitte
an der Brust hinab' begleitet vom Mundbild für
'Knopf'. Die beiden Zeichen ergeben zusammen 'Es gibt
Knöpfe in der Mitte an der Brust hinab'.
Ein
Mundbild kann alleine auftreten, wenn die
entsprechende Gebärde fehlt (oft bei Namen
unbekannter Leute oder Orte).
Kopf- und Körperhaltung:
Mit
'Kopf- und Körperhaltung' bezeichnen wir die Neigung des
Kopfes oder des Körpers nach vorne, hinten, links oder
rechts. Mittels Kopf- und Körperhaltung können zum Beispiel
verschiedene Satztypen, Adjektive und Adverbien oder die
direkte/indirekte Rede ausgedrückt werden.
|