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Hörschädigung und Persönlichkeitsentwicklung
(KK, 05/98)


Ein Kind mit einer Hörschädigung stellt Eltern vor das Problem, wie dieses Kind gefördert werden soll, um eine "normale" Entwicklung auf allen Ebenen zu erreichen. Was ist speziell zu beachten?

Wichtig in diesem Zusammenhang ist, daß sich die Eltern bewußt sein müssen, daß für die normale psychische Entwicklung eines hörgeschädigten Kindes andere Kriterien gelten als für hörende Kinder. Die mit einer Hörschädigung verbundenen Probleme können sich auf verschiedene Weise auswirken. Durch eine bewußte und gezielte Förderung kann es gelingen, Störungen zu mildern bzw. zu verhindern.

Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen, muß vorerst festgehalten werden, daß psychische Störungen nicht nur bei hörgeschädigten, sondern auch bei hörenden Kindern auftreten. Durch die Hörschädigung - die in vielen Fällen von den (vor allem hörenden) Eltern erst sehr spät bemerkt wird - besteht für die Kinder die Gefahr, daß sie in manchen Bereichen nicht genug gefördert werden. Dadurch können sich negative Auswirkungen auf ihr Verhalten und ihre gesamte Persönlichkeitsentwicklung ergeben.

Für die Entwicklung der ersten zwischenmenschlichen (interpersonalen) Beziehung spielen das Visuelle und die Akustik eine wichtige Rolle. Ist nun einer dieser beiden Bereiche beeinträchtigt, hat dies Auswirkungen. Neugeborene (hörende genauso wie hörgeschädigte) haben einen kleinen visuellen Aktionsradius. Das hörende Baby hat nun den Vorteil, unabhängig davon "akustisches Material" zu bekommen. Dem hörgeschädigten Baby bleibt dieses entweder vollständig oder teilweise verschlossen.

Durch die Produktion und Perzeption (Wahrnehmung) von verschiedenen Lauten bzw. den damit einhergehenden Reaktionen tritt das hörende Baby sofort in eine Kommunikation mit der Familie/Umwelt. Die Mutter muß für ein hörendes Baby nicht immer sichtbar sein, da das Kind auch eine verbale Reaktion der Mutter aufnehmen kann. (Die Stimme der Mutter wird von einem Kind sehr bald erkannt.) Dieses frühe Mutter-Kind-Verhalten ist der Ausgangspunkt für die spätere emotionale Bindung mit der Mutter.

Dem hörgeschädigten Baby bleibt der akustische Weg (zumindest teilweise) verschlossen. Es kennt die eigene Stimme nicht und auch nicht die der anderen. Für ein solches Baby ist die Mutter nur bei Blickkontakt vorhanden, das heißt, eine Verständigung ist nur bei Blickkontakt möglich. Erhält das Baby nun nicht genügend visuelle und taktile Reize, bleibt es in "einer Welt der Stille" gefangen, und es kann keine optimale Mutter-Kind-Beziehung hergestellt werden. Spätere emotionale Probleme eines hörgeschädigten Kindes können hier bereits ihren Anfang nehmen. Da sie vom visuellen Kontakt mit ihrer Mutter abhängiger sind als hörende Kinder, kann dies auch Auswirkungen auf die Entwicklung hinsichtlich Unabhängigkeit und Autonomie haben. Es wurde festgestellt, daß Kinder, die eine gute Mutter-Kind-Beziehung aufbauen konnten, auch im späteren Leben gute soziale Kontakte herstellen konten.

Vor allem hörgeschädigte Kinder hörender Eltern sind - im Gegensatz zu hörenden Kindern hörender Eltern oder hörgeschädigter Kinder hörgeschädigter Eltern - oft innerhalb der Familie relativ isoliert (speziell dann, wenn die Eltern nicht die Gebärdensprache als Kommunikationsmittel verwenden). Diese Kinder haben im Gegensatz zu den anderen Kindern ein geringes Repertoire an sozialen Verhaltensmustern. Hörende Kinder hörender Eltern oder hörgeschädigte Kinder hörgeschädigter Eltern bekommen (im Normfall) innerhalb der Familie die Basis für spätere Beziehungen: Akzeptanz, Verständnis und damit verbunden Selbstsicherheit und Toleranz. Hörgeschädigten Kindern hörender Eltern wird oft das Verständnis und die Akzeptanz vorenthalten. Hinzu kommt, daß das Kind aufgrund seiner Hörbehinderung nicht vollkommen in die Familienkommunikation miteinbezogen wird. Eine Folge davon kann sein, daß das Kind sich nicht angenommen und nicht verstanden fühlt. Kommt es nun mit anderen Kindern zusammen, kann es aufgrund seiner geringen sozialen Erfahrung das Verhalten dieser Kinder nicht einschätzen und reagiert unter Umständen mit Verhaltensstörungen (z.B. Aggressivität).

Durch die Gebärdensprache kann das Kind eine positive Identität aufbauen und an Sicherheit gewinnen. Die größere Sicherheit bezüglich des eigenen Standorts macht dann auch offener, auf andere - auch auf Hörende - zuzugehen.

In diesem Prozeß der Identitätsfindung spielt auch die Gehörlosengemeinschaft eine zentrale Rolle. Innerhalb dieser Gemeinschaft können Gehörlose unbeschwert in ihrer Sprache kommunizieren - im Kreise der Gemeinschaft gibt es keine Behinderung; es können gleichberechtigte Beziehungen eingegangen werden, was die Persönlichkeitsentwicklung positiv beeinflußt und zur Stärkung der Selbstsicherheit beiträgt.

Kommt es bei einem hörgeschädigten Kind zu Auffälligkeiten (zum Beispiel zu Verhaltensstörungen), sollte eine entsprechende Beratung in Anspruch genommen werden (z. B. Psychologe/Psychologin, Psychotherapeut/in für Gehörlose).


Literaturangaben:

Ahrbeck, Bernd (1992): Gehörlosigkeit und Identität (Internationale Arbeiten zur Gebärdensprache und Kommunikation Gehörloser, Band 22). Signum: Hamburg.

Bodenheimer, A.R. (21980): Taubheit - Die Barriere als Brücke (Wissenschaftliche Beiträge aus Forschung, Lehre und Praxis zur Rehabilitation behinderter Kinder und Jugendlicher). Neckar-Verlag: Villingen-Schwenningen.

Marschark, Marc & Clark, M.Diane - eds. (1993): Psychological perspectives on deafness. Lawrence Erlbaum Associates: Hillsdale, New Jersey, Hove and London;

Marschark, Marc (1993): Psychological development of deaf children. Oxford University Press: New York, Oxford.

Schenk-Danzinger, Lotte (201988): Entwicklungspsychologie. Wien.

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