Grammatik der Gebärdensprachen
Die einzelnen Zeichen der Gebärdensprachen
bestehen wiederum aus kleineren Bausteinen und können nach bestimmten Regeln (Grammatik)
miteinander verknüpft werden. In diesem Punkt sind die Gebärdensprachen mit den
Lautsprachen vergleichbar. Gebärdensprachen besitzen demnach:
Bausteine
Das sind Elemente, aus denen selbständige Zeichen (Gebärden) geformt werden
Zeichen
Darunter versteht man eigenständige Gebärden
Kombination
von Zeichen oder Zeichenteilen
Das sind Verbindungen von mehreren Gebärden oder Gebärdenteilen
Verben
Bildhaftigkeit
(Ikonizität)
1. Bausteine:
In Gebärdensprachen gibt es zwei Arten von
Bausteinen:
Bausteine, die mit den Händen
gebildet werden (manuelle Bausteine):
- Handform
Viele Gebärden unterscheiden sich in der verwendeten Handform voneinander. Vergleichen
Sie zum Beispiel die beiden österreichischen Gebärden FRAGEN und SAGEN. Da
sie sich nur in der Handform unterscheiden, bezeichnet man sie als "minimales
Paar".
Ein Beispiel für ein minimales Paar in der deutschen Lautsprache ist Haus/Maus. Diese
beiden Wörter unterscheiden sich nur im ersten Laut. Einzelne Bausteine können also
einzelne Wörter bzw. einzelne Gebärden unterscheiden. In gesprochenen Sprachen nennt man
solche Bausteine "Phoneme".
- Handstellung (Handorientierung)
Mit der Handstellung oder Handorientierung bezeichnet man die Stellung der
Handfläche und der ausgestreckten Finger. Einige Gebärden unterscheiden sich nur in der
Handstellung voneinander. Zum Beispiel die beiden österreichischen Gebärden SCHIFF
und KIRCHE.
- Ausführungsstelle
Die Ausführungsstelle beschreibt den Ort, an dem die Gebärde
gebildet wird. Gebärden werden normalerweise im Gebärdenraum geformt. Innerhalb
dieses Raums können Gebärden entweder vor dem Körper oder am Körper der gebärdenden
Person ausgeführt werden.
Beispiele für Ausführungsstellen am Körper sind: Hinterkopf, Kopfdecke, Stirn,
Schläfe, Nase, Wange, Ohr, Mund, Lippe, Unterkiefer, Kinn, Hals, Schulter, Brustbein,
Brust, Oberarm, Unterarm, Bauch und Bein.
Wie die Handform und die Handstellung kann auch die Ausführungsstelle einzelne Gebärden
voneinander unterscheiden. Vergleichen Sie zum Beispiel die beiden österreichischen
Gebärden MUTTER und MITTAG.
- Bewegung der Gebärde
Die Bewegung in Gebärden muß besonders genau beschrieben werden. Es gibt
unterschiedliche Bewegungsarten wie gerade Bewegungen, Bogen-, Kreis, Zickzack-, Spiral-
Schlängelbewegungen und komplexe Bewegungen. Beispiele für komplexe Bewegungen sind ZUSAMMENKNÜLLEN
(Papier) und BINDEN (Schuhe). Die österreichischen Gebärden GURKE und BRAUN
unterscheiden sich nur in der Art der Bewegung.
Bausteine, die mit dem Gesicht
ausgedrückt werden (nichtmanuelle Bausteine):
- Mimik
- Gestik
- Mundbild
- Kopf- und Körperhaltung
Gesicht und Körper werden sowohl in
der Gebärdensprache als auch in der Lautsprache eingesetzt, um verschiedene zusätzliche
Informationen mitzuteilen.
Zum Beispiel werden auch Gefühle übertragen. Man kann einen Satz wie "Er ist sehr
krank" mit einem sehr ernsten oder traurigen Gesicht aussprechen; mit einem anderen
Gesichtsausdruck kann derselbe Satz etwas anderes bedeuten (zum Beispiel dann, wenn er nur
so tut, als sei er krank). Solche Informationen werden nicht als Teil der Sprache
verstanden, sondern sind nichtsprachlich (nonverbal).
In der Lautsprache können
sprachliche und nichtsprachliche Elemente ohne Probleme getrennt werden. Sprachliche
Elemente werden mit der Stimme gebildet. Nichtsprachliche Elemente sind Gesichtsausdrücke
und Gesten.
In der Gebärdensprache
werden sowohl sprachliche als auch nichtsprachliche Informationen teilweise mit Hilfe von
Mimik und Gestik transportiert. Dadurch wird die Unterscheidung von "sprachlich"
und "nichtsprachlich" schwieriger.
Lautsprachliche Bausteine werden einer
nach dem anderen (sequentiell) gebildet: T+R+I+N+K+E+N
Im Gegensatz dazu treten Bausteine von
Gebärden vorwiegend gleichzeitig (simultan) auf. In der Gebärde TRINKEN
bilden Handform + Handstellung + Ausführungsstelle + Bewegung eine Einheit.
2. Zeichen:
Zeichen sind selbständige Gebärden.
Grundsätzlich unterscheidet man zwischen einhändigen und zweihändigen
Gebärden:
Einhändige Gebärden werden mit einer
Hand gebildet (BLUME).
Für zweihändige Gebärden werden beide Hände verwendet (KATZE).
Zeichen können auch aus mehreren
Gebärden bestehen, zum Beispiel bei KAFFEE+AUTOMAT. Dieses Zeichen setzt
sich aus den freien Gebärden KAFFEE und AUTOMAT zusammen.
3. Kombination
von Zeichen oder Zeichenteilen:
Gebärden besitzen oft Teile, die
nicht allein stehen können (in der Sprachwissenschaft werden sie als
"gebundene Morpheme" bezeichnet). Solche Zeichenteile müssen stets mit
selbständigen Zeichen kombiniert werden.
Beispiele für gebundene Zeichenteile in der
Gebärdensprache sind Anfang und Ende von bestimmten Verb-Gebärden (Kongruenzverben).
Die Gebärde für ein solches Verb beginnt an einem bestimmten Ort (Raumpunkt) und
bewegt sich in die Richtung eines zweiten Ortes. Wird zum Beispiel ein Buch an
eine zweite Person weitergegeben, dann beginnt die Gebärde bei der gebärdenden Person
und endet bei der Person, die das Buch bekommt (ich-GEBEN-dir). Anfangs-
und Endpunkt des Verbs verweisen dabei auf die beteiligten Personen.
Gebärden in Gebärdensprachen werden
miteinander kombiniert. Die Gebärden werden zeitlich nacheinander gebildet, eine
Gebärde folgt der anderen. Beziehungen zwischen den Gebärden werden oft
auch durch die Verwendung des dreidimensionalen Raums ausgedrückt. Der
dreidimensionale Raum spielt in der Grammatik der Gebärdensprachen eine wesentliche
Rolle. Folgendes Beispiel soll zeigen, was darunter gemeint ist:
Sitzt zum Beispiel ein Hund unter dem Tisch,
so wird dies so beschrieben: Der Tisch wird mit Hilfe der Gebärde TISCH
und einer Zeigegeste in den Raum gestellt (die Zeigegeste - auch
Indexgebärde - ist eine "Zeigefingerhand", die sich in verschiedene
Richtungen bewegen kann), oder es wird mit einer Zeigegeste auf den Tisch verwiesen.
Danach erst wird die Gebärde HUND gebildet. Zwei sogenannte Klassifikatorhandformen
beschreiben daraufhin die räumliche Anordnung von Tisch und Hund.
In unserem Fall wird jene Hand, die den Hund repräsentiert, unter die andere Hand, die
den Tisch darstellt, bewegt. - (Klassifikatorhandformen geben bestimmte Eigenschaften von
Personen und Objekten wieder, zum Beispiel ihre Größe, ihre Form, die räumliche
Anordnung zueinander, ...).
Gebärdenteile können aber auch
simultan (gleichzeitig) miteinander kombiniert sein. Durch die gleichzeitige
Realisierung von Bausteinen kann in eine einzige Gebärde eine große Menge an Information
gepackt werden. Um denselben Inhalt in gesprochenen Sprachen wiederzugeben, sind oft
mehrere Wörter erforderlich.
4. Verben:
Eine große Anzahl grammatischer Informationen
kann durch manuelle und nicht-manuelle Modifizierung (Veränderung) der
Verb-Gebärde wiedergegeben werden, so zum Beispiel:
Subjekt/Objekt der Verb-Handlung
Quelle/Ziel der Verb-Handlung
Art und Weise
Tempus (Zeit) und zeitlicher Aspekt
- Subjekt/Objekt in Verb-Gebärden
Kongruenzverben werden mit dem Subjekt
und/oder dem Objekt der Verb-Handlung übereingestimmt.
Bewegungsrichtungen und/oder Handorientierung bestimmen, welche Personen beziehungsweise
welche Objekte an einer Handlung beteiligt sind. Im Kongruenzverb ANSCHAUEN ändert
sich sowohl die Bewegungsrichtung als auch die Orientierung der Finger. So
kann "die gebärdende Person eine zweite Person anschauen" - die Gebärde
beginnt in diesem Fall bei der gebärdenden Person und geht in Richtung der zweiten
Person. Es kann aber auch "eine zweite Person die gebärdende Person anschauen"
- die Hand bewegt sich dann von der zweiten Person hin zur gebärdenden Person.
Diesen Vorgang kann man auch so darstellen:
Subjekt |
-------------------------> |
Objekt |
|
ich |
ANSCHAUEN |
er |
"Ich schaue ihn an" |
er |
ANSCHAUEN |
ich |
"Er schaut mich an" |
Diese Abbildung zeigt, daß das Kongruenzverb
vom Subjekt ausgeht und in Richtung des Objekts bewegt wird. Beispiele für
Kongruenzverben aus der Österreichischen Gebärdensprache (ÖGS) sind: UNTERRICHTEN,
FRAGEN, ANTWORTEN, GEBEN, ZEIGEN ...
Innerhalb der Kongruenzverben gibt es eine
Gruppe von Verben, die ein umgekehrtes Kongruenzmuster aufweisen:
Subjekt |
-------------------------> |
Objekt |
|
du |
EINLADEN |
ich |
"Ich lade dich en" |
ich |
EINLADEN |
du |
"Du lädst mich ein" |
In diesem Fall beginnt das Verb beim Objekt,
die weitere Bewegung erfolgt in Richtung des Subjekts. Dasselbe gilt für folgende Verben
der Österreichischen Gebärdensprache (ÖGS): NEHMEN, HOLEN, ABHOLEN, AUSLEIHEN,
AKZEPTIEREN.
- Quelle/Ziel in Verb-Gebärden
Raum-Verben beschreiben Bewegungen
zwischen Quelle (Ausgangspunkt) und Ziel sowie die Position von Personen/Objekten an einem
bestimmten Ort (Ziel).
Die Gebärde für das Verb beginnt daher am Ausgangspunkt der Handlung und bewegt sich in
Richtung des Ziels. Beispiele dafür aus der ÖGS sind: GEHEN, KOMMEN, BRINGEN, TRAGEN,
BEWEGEN.
Quelle |
-------------------------> |
Ziel |
|
A |
GEHEN |
B |
"Ich gehe von A nach B" |
Die beiden Raumpunkte A und B werden mit
bestimmten Orten in Beziehung gebracht. Dabei handelt es sich entweder um Orte oder um
abwesende Orte.
- Art und Weise
- Tempus und zeitlicher Aspekt
(Diese Punkte werden in Kürze ergänzt! Danke
für Ihr Verständnis!)
5.
Bildhaftigkeit (Ikonizität) in Gebärdensprachen
Viele Gebärden ähnelt wirklichen Objekten.
Solche Gebärden werden als bildhaft oder ikonisch bezeichnet. Ein Drittel bis zur Hälfte
des Wortschatzes eines erwachsenen Gehörlosen kann als ikonisch beurteilt werden. Klima
& Bellugi (1979) unterschieden verschiedene Grade der Bildhaftigkeit:
transparent (durchsichtig)
Die Beziehung zwischen der Gebärde und dem Objekt ist für jeden klar ersichtlich (auch
für Personen, die keine Gebärdensprache beherrschen). Zum Beispiel die Gebärde ESSEN
(eine Hand, die zum Mund geführt wird).
halbtransparent (halbdurchsichtig)
Die Bedeutung der Gebärde ist nicht offensichtlich. Die Beziehung zum Objekt
wird jedoch klar, sobald man die Bedeutung der Gebärde erfährt. Zum Beispiel AUTO
(zwei Hände, die ein Lenkrad bewegen), MILCH (Melken einer Kuh), FASCHING
(Maske vor Gesicht).
Nicht nur konkrete Objekte werden in Gebärden abgebildet, auch abstrakte Inhalte, wie zum
Beispiel "denken", "Liebe", "Angst" können in
Gebärdensprachen ikonisch repräsentiert sein: DENKEN (Finger an Stirn zeigt Ort
des Denkens), LIEBE (Hand liegt auf dem Herzen), ANGST (Finger klopfen auf
linker Brust).
nicht transparent (undurchsichtig)
Undurchsichtige Gebärden sind keine ikonischen Gebärden. Der Bezug zwischen der
Gebärde und dem Objekt ist nicht erkennbar. Durch verschiedene natürliche Prozesse (zum
Beispiel die Vereinfachung der Gebärde) nimmt der bildhafte Charakter vieler ikonischer
Zeichen mit der Zeit ab.
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